Nebensonnen ist ein Hörerlebnis der ganz besonderen Art, eine radikale Bearbeitung von Schuberts Winterreise in der modernen Sprache des Jazz. Am Beginn ist noch eher Zurückhaltung spürbar und die Grundzüge des ersten Liedes, Gute Nacht, sind noch eindeutig zu erkennen. Mit der Einleitung zum zweiten Lied, Die Wetterfahne, erfahren jedoch Rhythmus, Melodie und Harmonie eine wilde Verzerrung, in der einzig und allein Schuberts melodischer Leitfaden durchgehend erhalten bleibt. Ab hier wird auf jegliche offensichtliche Ähnlichkeit zu Schuberts Klavierpart verzichtet, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen - einem unheimlichen E-Bass-Echo der Triolenfiguration in Der Lindenbaum, einer Flügelhornversion des Posthorns in Die Post und (äußerst bewegend mit gedämpfter Trompete) der schaurigen, eindringlichen Melodie in Der Leiermann, mit dem der Zyklus endet. Unterdessen verkörpert Manfred Mitterbauers sonorer, ausdrucksstarker Bassbariton beredt die Seele von Schuberts (und Müllers) Originalzyklus, jedoch vor dem Hintergrund einer sich zunehmend auflösenden, halluzinatorischen Landschaft, heraufbeschworen durch E-Gitarre, E-Bass, Marimba, Percussion und Trompete des Ensembles Zeit_ Sequenzen.
Puristen mögen das Fehlen von Schuberts Klavierpart beklagen. Dafür entschädigt Komponist Manfred Paul Weinberger damit, dass er die expressionistischen Aspekte von Wilhelm Müllers Lyrik und dessen bizarren Humor hervorhebt, indem er die Gesangsstimme stellenweise bis hin zum Sprechgesang verzerrt, oder (wie etwa in Im Dorfe) indem er den Hintergrund auf eine beängstigende Abfolge von lautmalerischem Kratzen, Rasseln, Knarren und Quietschen reduziert. Weinbergers Trompete wird sparsam aber wirkungsvoll eingesetzt, sei es als gefühlvoller Kontrapunkt zum frostigen Zusammenspiel von Marimba und Gitarre, oder auch um Momente rhythmischer Dramatik noch stärker spürbar werden zu lassen. Fließen nun auch noch die überirdisch klingenden elektronischen Effekte ein, dann hat sich eine Winterlandschaft kaum jemals so rau und kalt angehört.
Halluzinatorisch, expressionistisch, herausfordernd – aber auch bewegend, vor allem im vorletzten Lied, von dem der Titel dieser Version stammt. Mit melancholischer Gitarre, elegischer Trompete und Mitterbauers ergreifendem Klagen über das Sterben des Lichts schließen Die Nebensonnen den emotionalen Kreis. In der Tradition moderner Bearbeitungen wie etwa Picassos Variationen der Meninas von Velázquez verdient Nebensonnen auf ganz eigene Weise gehört zu werden, als Hommage an Schubert einerseits und als Erweiterung von Schuberts Original andererseits.
Roger Vignoles
Übersetzung: Ernestine Leberbauer