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In der Ruhe liegt die Kraft der vitalen Musik
Für die Sängerin, Interpretin und Produzentin Federica Ferrari ist „Silêncio“, die Ruhe, ein wichtiges Instrument, um mit sich selbst in Verbindung zu treten. Ruhe schafft viel Raum, in dem es ganz schön laut sein kann. Ist der Titel ihres neuen Albums „Silêncio“ dementsprechend eine Täuschung? Nein, er deutet vielmehr die spielerische Auseinandersetzung mit der Ruhe an. Die Entscheidung für die zweite Studioeinspielung der Italienerin mit Wohnsitz Wien fiel in einer Phase, als sie in der Stille nach Antworten auf Fragen persönlicher Natur suchte. Ruhe ist zudem ein Schlüsselbegriff, der in den Song-Texten des brasilianischen Komponisten und Musikers Edu Lobo beständig anklingt. Auf 12 ausgewählten Stücken des nunmehr bald 81-jährigen Mitbegründers der Música Popular Brasileira (kurz MPB) fußt Federica Ferraris „Silêncio“. Das Vorhaben, ein Album zu arrangieren und produzieren, dem ausschließlich frische Interpretationen von Lobo-Stücken innewohnen, war schnell formuliert. Bereits auf ihrem Einstandswerk, dem 2020 erschienenen und viel gelobten „A Jóia Escondida“, wandte sie sich den Großmeistern der MPB zu: bemerkenswert lebendige Ferrari-Versionen von Milton Nascimento- Baden Powell- und Antonio Carlos Jobim-Stücken zeichneten die Debütplatte groß. Parallel dazu wuchs Federica Faszination für den MPB-Zugehörigen Edu Lobo. Dessen Musik ist strukturell betrachtet eher herausfordernd, komplex. Sie steckt voller raffinierter Harmonien, aus denen sich das melodische Geschehen gleichzeitig leicht zugänglich wie aus einem Guss geschaffen erhebt.
Hommage zum 80sten
Von den Songs Edu Lobos wurde erstmals in den frühen 1960er-Jahren Notiz genommen, als die Bossa Nova zum weltumspannenden Etablieren ihres damals neuen Sounds vom Zuckerhut ansetzte. Von diesem musikalischen Geschehen emanzipierte sich der Komponist jedoch relativ schnell mittels Hinzunahme traditioneller brasilianischer Spielarten wie Frevo, Choro und Baião. Federica Ferraris Wunsch, Lobo mit „Silêncio“ zum 80sten Geburtstag im letzten Jahr zu gratulieren und „Danke“ für seine Musik zu sagen, erfüllte sich aus produktionstechnischen Gründen nicht. Dennoch erreichte ihr Ansinnen den Musikpoesieschaffenden aus Rio de Janeiro zum runden Ehrentag. Ein Instagram Posting, das den Hinweis auf ein Konzert Ferraris enthielt, ließ Edu Lobo aufmerksam werden und in Kontakt treten. Als „Silêncio“ schlussendlich eingespielt und abgemischt war, schickte die Sängerin 12 Song Files nach Brasilien. Leicht fiel ihr der Schritt, ihre Interpretationen seiner Cantos loszulassen und ihm zur „Begutachtung“ vorzulegen, nicht, wie sie sich erinnert. Faktisch hatten sie und ihre exzellent besetzte Band nämlich keine Eins-zu- eins-Lesungen seiner Lieder aufgenommen, sondern freie Interpretationen geschaffen - voller Hingabe und Respekt. Das Aufatmen diesseits des Atlantiks war groß, als Lobo mit freundlichem Gruß seine Begeisterung über Ferraris Freideutungen seines Songs ausrichten ließ. Mehr noch: Er stellt seither sukzessive sein Interesse am Werdegang von „Silêncio“ in seinen genutzten Social- Media-Kanälen unter Beweis. Welche Ehre! Welcher Ritterschlag!
Inhalt und Reflexion = Grandeur
Federica Ferrari singt Lobo auf „Silêncio“ in brasilianischem Portugiesisch - des besonderen Rhythmus der Sprache wegen. Die Offenheit der Musik des Südamerikaners öffnet jedoch, ähnlich wie im Jazz Räume zum Weitererzählen ihrer inhaltlichen Ausrichtungen. Somit dürfen die jeweils eigenen Lebensgeschichten einer Interpretin oder eines Interpreten sehr wohl die Geschichten von Lobo-Songs spiegeln. Für Begeisterungsschübe sorgt Ferrari auf „Silêncio“ gleichwohl nicht nur bei Zeitgenossen mit Portugiesisch-Kenntnissen. Ihre reichhaltig gesäten, von großer emotionaler Intensität geprägten Gesangsharmonien lassen Aussagen auch ohne Worterklärungen verstehen. Tief empfundene Melancholie und bravourös vermitteltes, lebensfrohes Crescendo legen mitreißende Spannung in „Silêncio“. Es darf und soll mitgefühlt werden, denn in der musikgewordenen Achse Lobo-Ferrari steckt reichlich Mitgefühl und Austausch an Menschlichkeit. „Angú de caroço“ führt mit einem Paukenschlag in „Silêncio“ ein, der unmittelbar vermittelt: Hier sind wir eine Band, der es keineswegs an schillernden Klangfarben mangelt! Die Pauke ist hierin ein Vibrafon, das sich freundschaftlich ans Schlagzeug schmiegt, das mit einnehmender, äußerst lebendig-tanzbarer Beseeltheit vorangeht. „Canção do amanhecer“, das Lied der Morgendämmerung, befasst sich hingegen mit Abschied, aus dem Sehnsucht entsteht. Ferrari und ihre Band lassen in dem vergleichsweise getragenen Stück Hoffnungsschimmer erkennen.
Entgegen dem musealen
Die Arrangements, mit denen Ferrari und ihre sechsköpfige Band aufwarten, tragen dem Spirit der heutigen brasilianischen Musik Rechnung. In dem südamerikanischen Land, wo alles beständig in Richtung Veränderung pulsiert, gilt die klassische Bossa Nova längst als überholtes Museumsstück. Ferraris Musik wird zwar sublim von der Bossa und vom Jazz getragen. Sie bricht indes pausenlos in alle Himmelsrichtungen auf, um neue Anknüpfungspunkte zu finden. Kaum jemand würde zunächst die Mundharmonika oder das Vibrafon mit brasilianischer Musik in Verbindung bringen. In Federica Ferraris immensem Klangverständnis ergänzen beide charakteristischen Instrumentenklangeigenschaften jedoch auf wunderbar-einfühlsame Weise den Impetus der Música Popular Brasileira. Ferraris Band setzt sich aus europäischen und südamerikanischen Musikern zusammen. Deren jeweilige Provenienzen spiegeln sich in der Umsetzung der Lobo-Songs wider. Europäische Musikkultur, die bekanntlich in Brasilien auf ihr afrikanisches Pendant trifft, wird auf „Silêncio“ mit dem freiheitlichen Geist des Jazz verknüpft. Daraus entsteht etwas Neues, Einzigartiges, das sich folgerichtig am besten als Federica-Ferrari- Musik bezeichnen lässt. „Silêncio“, die Ruhe, flirtet darin mit Körperlichkeit und Vitalität.